Überlegungen

Die neue Stadt wäre eine Projektion von zwischenmenschlichen Projekten. Das klingt ,utopisch', was es ja buchstäblich ist, denn die neue Stadt ist geographisch nicht lokalisierbar, sondern überall dort, wo Menschen einander sich öffnen. Aber gerade weil es utopisch klingt, ist es realistisch. Denn die emportauchende relationelle Weltsicht und die daraus folgende Anthropologie fordern utopisches Denken. Wir haben dafür keine überkommenen Modelle und müssen sie neu entwerfen.
Flusser, Vilém: Nachgeschichten. (1.Aufl.) Bollmann: Düsseldorf 1990, S 179

Öffentliche Bilder
Unter öffentlichen Bildern versteht man primär Werbeflächen aller Art (Plakate, Reklamewände, Laufschriften, Schaufenster), Hinweis- und Verkehrsschilder, Firmenzeichen (Logos), Film- und Fernsehbilder usw. In der Regel handelt es sich dabei um Medienbilder, hergestellt von Firmen, Agenturen oder öffentlichen/politischen Institutionen. Ihr Zweck besteht in der Propaganda (z. B. für Produkte, Dienstleistungen oder Ideologien) sowie in Appellen und Geboten (z. B. für ein bestimmtes Verhalten im Straßenverkehr).

In jeden Fall geht es um menschliche Verhaltensformen gemäß der durch öffentliche Bilder projizierten und repräsentierten Interessen - sei es das Verhalten als Kunde, als Verkehrsteilnehmer oder als Wähler in jenem so genannten öffentlichen Raum, in den die Interessen hineinprojiziert werden.

Die Natur der öffentlichen Bilder ist das Offenkundige.





Eine weitere Kategorie öffentlicher Bilder - genauer von Imageries - wären auf Konventionen verweisende Aspekte, wie sie sich visuell (durch Architektur, Grünraumgestaltung, Beflaggung, Weihnachtsdekoration etc.) oder akustisch (im Läuten von Kirchenglocken, Verkehrs- oder Baustellenlärm ...) manifestieren.

Öffentlicher Raum
Unter öffentlichem Raum versteht man frei zugängliche und nutzbare Orte, wie Straßen und öffentliche Plätze, desgleichen frei zugängliche Gebäude, die sich meist in Staatsbesitz befinden, oder auch Teile der freien Natur. (Wiewohl frei zugänglich, stellt z. B. ein Einkaufszentrum dagegen nur scheinbar einen öffentlichen Raum dar, da Hausrecht und Entscheidungen über die Nutzung bei den Eigentümern liegen.)
In der Beschränkung der freien Zugänglichkeit und Nutzbarkeit gibt sich der öffentliche als politischer (reglementierter, verwalteter) Raum zu erkennen. So etwa unterliegen Versammlungen von Personen im öffentlichen Raum, etwa Demonstrationen, dem Versammlungsgesetz, etc.

Der öffentliche Raum ist zugleich ein realer und symbolischer Ort. Realiter erweist er sich als von spezifischen Interessen besetzt; symbolisch steht er für den Modus der Organisation des (örtlichen) Zusammenlebens, die Polis. Die Synonymie zwischen dem - im weitesten Sinn für "das Öffentliche" stehenden - Begriff Polis und Stadt ist dafür bezeichnend.

Orts(bild)gestaltung
Aus dem Zusammenwirken der spezifischen Funktions- und Seinsweisen der öffentlichen Bilder und des öffentlichen Raumes (Propaganda, ästhetische Konventionen, Polis) entsteht das öffentliche Bild einer Stadt, ihre Gesamterscheinung und das dadurch vermittelte Ortsgefühl, die "Identität" des Ortes - mit anderen, Rüdiger Safranskis Worten: "emotional gesättigte Ortsbindung". In diesem Modus der Polis verwirklicht die Stadt also durch die Menschen über das Maß ihrer zugewiesenen Rollen als Kunden, Verkehrsteilnehmer, Wähler... hinaus jenen imaginativen Charakter, der sie (die Stadt) am Leben erhält. Sie wird vorstellbar als ein dem schieren, im offenkundigen Nutzen gebundenen Endzweck der Dinge übergeordnetes Lebensinteresse - als etwas anderes, als sie offenkundig ist. Optionen, Alternativen, Haltungen, Ideen ..., alle dadurch motivierten sozialen und politischen Prozesse haben die Vorstellung vom Anderen (AR, Augmented Reality ) zur unabdingbaren Voraussetzung.

Kennzeichnet öffentliche Bilder das Offenkundige, so ist die Natur des Öffentlichen Bildes das Imaginative.





Der implizite oder imaginative Raum war immer schon der Raum der Kunst. Als Raum der Politik ist es der, in dem - mit Hanna Arendt gesprochen - Freiheit sich organisiert. In der Art und Weise, wie er zum öffentlichen Bild kondensiert, spiegelt die Stadt ihre partizipatorische Kultur wider, ohne die eine jegliche Politik in Bevormundung verfiele.

Genius Loci
Dieses Öffentliche Bild bezieht seine Qualität insbesondere daraus, dass und wie sich das Politische (im Sinne der Polis) darin symbolisch und konkret öffentlich abbildet, veröffentlicht.
Veröffentlichen heißt in diesem Fall, dass sich in den Raum Lebensinteressen hineinbilden bzw. sich aus ihm Interessen herausbilden, die die propagandistischen Bilder nicht ansprechen bzw. anzusprechen nicht imstande sind . Ein ausschließlich von propagandistischen Bildern geprägter Ort bliebe ja infolge ihrer Austauschbarkeit ohne erkennbare Identität. (Von Apotheke, Gemeindeamt, Palmers, Billa, Raiffeisenbank, Trafik, Zebrastreifen, Vobis, Sorger, Stiefelkönig ... lässt sich nicht schlussfolgern, dass es sich dabei konkret um Judenburg, Graz oder Zeltweg handelt). Identität aber hat die Bereitschaft, sich in das Andere verwickeln zu lassen, zur Voraussetzung. Identität einer lebendigen Stadt ist nicht ein einmal erreichter Zustand, sondern ein in lebendiger Bewegung begriffener, vitaler Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, der als solcher einer permanenten Aktualisierung bedarf. Alles andere wäre Gewohnheit, die dadurch, dass sie sich verdinglicht, am Ende die Stadt in einen toten Raum verwandelt.

So gesehen, ist Ortsbildgestaltung ein partizpatorisches Projekt zur Aneignung von Identität (emotional gesättigter Ortsbindung). Sie realisiert sich in der Art und Weise der Ein-/Hineinbildungen, die besagen, dass es wert ist oder wert sein könnte, hier zu leben und nicht nur hier einzukaufen. Dagegen unterscheidet sich ihr namentliches Pendant allenthalben üblicher Oberflächengestaltung durch Färbelung von Häusern usw. im Grunde kaum von dem Vorgehen, die Leere von Schaufenstern abgewanderter oder in Konkurs gegangener Geschäfte durch kreativen Kinderkram zu verblenden.

Ohne Herausbildung imaginativer Räume wäre eine Stadt wie ein Einkaufszentrum; ihr bloß scheinbarer Öffentlichkeitscharakter stünde im Widerspruch zum Bedarf an Identität. Eine Stadt, die sich primär als ein Einkaufszentrum bzw. als Einkaufsstadt versteht und entsprechend organisiert (oder gar, wie die Autoren des Masterplans unterstellen, daraus ihr Selbstbewusstsein bezieht), untergräbt damit die Chancen ihrer kulturellen Entwicklung, an der zuletzt auch die Geschäftswelt partizipiert, weil sie die Kultur des Öffentlichen konjunkturellen Bedingungen unterordnet.

Es ist eine Sache, wenn Wirtschaftstreibende in Auftritt und Organisation ihrer Geschäfte die Anschauung realisieren, dass es genüge, ihre Produkte in der und nicht auch durch die Stadt zu verkaufen. Bis zu einem gewissen Grad verständlich infolge der "wirtschaftlichen Mobilität", der prinzipiellen Austauschbarkeit des Ortes, an dem geschäftlichen Interessen nachgegangen werden kann. Es ist eine andere Sache, wenn "eine Stadt" der Kurzsichtigkeit dieser Anschauung Vorschub leistet, indem sie sich, ihr Selbstbewusstsein/ihre "Identität" in deren Dienst stellt. Eine Stadt ist immobil.

Erweiterung des Blicks
In den Schaufenstern bildet sich diese Kurzsichtigkeit gleichsam durch die kommerzielle Zentralperspektive ab - den so genannten Blickfang.



Dieser hat seinen realen und symbolischen Fluchtpunkt im Zentrum des Bildes/Schaufensters. Seine begriffliche Entsprechung hat dieser Fluchtpunkt in der politisch fragwürdigen Perspektive der Stadt als Einkaufsstadt. Lediglich ungewollte - weil den Blick auf das beworbene Produkt im Schaufenster störende - optische Effekte, nämlich Spiegelungen des Außenraumes im Fensterglas, imaginieren gewissermaßen einen zweiten Fluchtpunkt - und zwar hinter dem Betrachter - und damit eine etwas avanciertere perspektivische Dimension.



Imaginative Drehung
Der Horizont, auf dem die Fluchtpunkte liegen, führt mitten durch den Betrachter. Es bedarf daher einer imaginativen Drehung, um diese Perspektive zu erkennen. Sie einzunehmen heißt automatisch, sich selbst beim Betrachten zu imaginieren.

In dieser "Drehung" beschreibt sich meines Erachtens grundsätzlich das Wesen von Politik - insofern, als das Vermögen, das jeweils Fokussierte nicht nur als "Punkt" oder "Koordinate" (sprich Ziel oder Endzweck), sondern als qualitativen Aspekt des "Raumes" zu erkennen, als welcher die Stadt sich im Sinne der Polis realisiert, diesen imaginativen Vorgang zur Voraussetzung hat.

Eine auf zentralperspektivische/propagandistische Bilder fixierte Politik wäre mit den Bildern - die sie hat, auf deren Basis sie agiert und die sie produziert - austauschbar. Ihren solcherart begangenen Verrat an der Polis oder, weniger krass gesagt, das hier mehrmals monierte Versäumnis, eine Vorstellung von Stadt über das Offenkundige hinaus zu entwickeln, spricht, glaube ich, auch Peter Sloterdijk an, wenn er den Grund für ein bislang falsches Menschenverständnis darin vermutet, dass man den Ort, an dem sie sich aufhalten, stillschweigend vorausgesetzt habe, ohne ihn wirklich bewusst zu machen.

Liquid Music soll ihn für drei Tage bewusst machen.

Ich habe oben festgestellt, dass die Attraktivität Judenburgs als Einkaufsstadt für Liquid Music von sekundärem Interesse ist. Eine durchaus erwünschte Nebenwirkung wäre es jedoch, wenn der Transfer des kulturellen Zustands in einen Erfahrungszusammenhang auf die öffentlichen Bilder der Schaufenster zurückwirkt. Wenn es so ist, wie ich vermute, dass die Bilder den kulturellen Zustand nicht nur anzeigen, sondern, in ihrer Funktion, den Blick zu fangen, mit verursachen, dann könnten dadurch "bessere" Bilder, dass sie den Blick befreien, vielleicht den Zustand "verbessern". [ ]


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