01. _ 03. AUGUST 2002

OVERVIEW BEZOG SICH AUF DEN OVERVIEW EFFECT — EINEN BEGRIFF AUS DER RAUMFAHRT FÜR ERLEBNISSE EINER RADIKALEN ÄNDERUNG DER PERSPEKTIVE AUF ZWAR THEORETISCH BEKANNTES, DAS ABER IN DIREKTER WAHRNEHMUNG NOCH NICHT REFLEKTIERT WURDE. LIQUID MUSIC STELLTE DAMIT DEN BLICK VON AUßEN ZUR DISPOSITION, EINEN WECHSEL DER PERSPEKTIVE VOM NAHEN ZU MEHR DISTANZ. DABEI WURDE — IM SINNE DER VOM LATEINISCHEN PERSPICERE, DURCHBLICKEN, ABGELEITETEN BEDEUTUNG — DISTANZ ALS EINE DISKURSIVE GRÖßE DER INTUITIVEN NÄHE GEGENÜBERGESTELLT.


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ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN ZU DEN LIQUID-MUSIC-SCHWERPUNKTEN
In dem Ausruf "ich versteh' die Welt nicht mehr!" bilden Menschen einen Chor, die sich um ein tieferes Verständnis bemühen als es die Flut der Bilder prägt, die durch Informationsmedien in deren jeweiligen Formaten, Kategorien und Portionen geliefert werden.

In unserem Alltag machen sich aber nicht erst jetzt Verhältnisse - Stichwort Globalisierung - bemerkbar, die dazu angetan sind, die beklagte Unverständlichkeit durch den Ausruf "ich seh' die Welt nicht mehr!" zu artikulieren.

Ich seh' die Welt nicht mehr, heißt beispielsweise auch den Mangel an Einsicht zu beklagen, wie (und warum) die Welt formatiert, kategorisiert und portioniert wird. Denn der Modus, wie die Bilder, die unsere Vorstellungen von der Welt prägen, zustande kommen, sagt in der Regel weit mehr über deren Inhalte aus als die Bilder selbst. Und da ist die Kunst direkt angesprochen. Nicht als Bild-Produzentin, die sie im Grunde nie war, sondern in ihrer Tradition, durch das, was sie zeigt, die Aufmerksamkeit auf das Nicht-Sichtbare zu lenken, aus dem das Sichtbare (KunstWerk) dann seinen Sinn bezieht.

Die Kunst ist natürlich nicht ein so einfach, wie jene Menschen, die die Welt "verstehen", sie gerne haben möchten.

Das wären also zwei Schwerpunkte von Liquid Music: Die Dinge des Alltages, die sich der reinen Anschauung entziehen, und die Medienkunst, weil ihre pozessuale Organisation sie befähigt, kulturelle Prozesse nicht nur zu illustrieren, sondern zu formalisieren und damit erfahrbar zu machen. Der dritte Schwerpunkt ist die Stadt Judenburg - nicht im Sinne eines bloßen Schauplatzes, sondern als inhaltliche Ressource der künstlerischen Arbeiten. D.h. die Arbeiten sind nicht austauschbar. Würden sie an einem anderen Ort stattfinden, dann in anderer "Gestalt".

Liquid Music ist ein Medienkunstprojekt, das in Form eines kleinen Festivals seit 1998 in Judenburg jährlich und heuer - zum Thema "Overview" - von 31. Juli bis 3. August zum fünften Mal über die Bühne ging.

IDEEN-HINTERGRUND "OVERVIEW"
"Overview" bezieht sich auf den Overview Effect - einen Begriff aus der Raumfahrt für Erlebnisse einer radikalen Änderung der Perspektive auf zwar theoretisch Bekanntes, das aber in direkter Wahrnehmung noch nicht reflektiert wurde. (Dass etwa die Erde ein kleiner, aus kosmologischer Sicht völlig unbedeutender Planet, aber alles ist, was wir haben.) Liquid Music 2002 bemüht diesen Effekt unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich den der Theoretisierung dessen, was lange dem Zeugnis der Sinne genügt hat.

Mit OVERVIEW sollten die Grundintention des Projektes Liquid Music, die Stadt Judenburg [auch] als Spiegel der durch die Veranstaltungsbeiträge thematisierten Phänomene zu exemplifizieren, weiter forciert werden. Im Anschluss an die Beiträge zu CHECKPOINTS - deren gemeinsamer "Point of view" Fremderscheinungen im Naheverhältnis zu den Dingen waren, wenn deren Arrangement sich [u.a.] unter technologischen Gesichtspunkten verändert - sollte die Perspektive gleichsam umgekehrt werden und das Nahe [auch, was einem im übertragenen Sinne nah' ist] durch mehr Distanz dazu zu reflektieren.

WAS IST MIT THEORETISIERUNG GEMEINT?
Ein Wald mag (z.B. für einen Wanderer) in direkter Anschauung gesund wirken, aus der Ferne und mit geeigneten Instrumenten betrachtet, kann er sich als krank erweisen. Ein solcher "Über-Blick" hat einerseits eine größere Distanz zum Mittelpunkt meines Interesses zur Folge, andererseits rücken vorher ausgeblendete Dinge ins Gesichtsfeld, die nun mit dem Punkt verbunden werden müssen, der vorher mein Gesichtsfeld als einziger Fleck dominiert hat. In dem Maße, in dem er sich aus meinem Gesichtsfeld entfernt, wird er zum Gegenstand meiner Imagination - der Erinnerung. Verbindungen herzustellen und in Relation zu vertrauten Vorstellungen zu setzen bedeutet, eine gedankliche Anstrengung zu unternehmen - auch diesbezüglich, dass das Vertraute in Relation zum Wissen, das ins Spiel kommt, plötzlich fragwürdig erscheint. Das ist die Kritik der Nähe.

WIE KÖNNTE ES ZU EINEM "THEORETISCHEN" OVERVIEW EFFECT KOMMEN?
Obwohl von Globalisierungseffekten nahezu täglich eines Besseren belehrt, halten wir beispielsweise an der Gewohnheit fest, unsere Wohnorte als Lebensmittelpunkt zu begreifen. Dabei sitzen wir vermutlich der Illusion eines Nahbildes auf, der Nähe zur bloßen Topographie (topographischen Illusionen). Aus diesem Naheverhältnis werden "vor Ort" - politisch-gestaltende - Handlungen abgeleitet. Orte neigen jedoch dazu, sich gegen unseren traditionellen Anspruch an sie zu verhalten. Pendler sind z.B. nur eine Folge dieser Tendenz. Tritt man drei Schritte zurück und stellt sich die Wege der Pendler als Ausformung eines Ortsbildes vor, ändert sich auch die Vorstellung von einem Lebensmittelpunkt. Es tauchen zuvor unbeachtete Aspekte auf, Verhältnisse, Beziehungen zu anderen Punkten. Der Overview Effekt stellt sich dann vielleicht mit der Erkenntnis ein, dass eine Bündelung von Beziehungen nur den Eindruck eines Punktes erweckt hat. Der Ort entpuppt sich als theoretisches (topologisches) Objekt. Die Kunst vermag dafür formale Entsprechungen zu finden. Sie operiert gewissermaßen traditionell aus dem Zustand heraus, in den uns die Theoretisierung der Dinge sukzessive führt.

GIBT ES EINE BOTSCHAFT?
Keine Botschaft. Wir teilen das Weltunverständnis mit den anderen, die an der Welt interessiert sind. Würden wir vorgeben, sie zu verstehen, käme nur nur ein weiteres schlechtes Bild von ihr zustande. Aber vielleicht eine Vermutung oder Frage: nämlich ob aus dem distanzierten, theoretischen, Verständnis nicht doch die dem (topologischen) "Verhalten" des Ortes eher entsprechenden Handlungen abzuleiten wären.

Heimo RANZENBACHER

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